Einmal mehr berichtet das Markusevangelium von einer Fangfrage jener, die meinen, zu 100 Prozent „rechtgläubig“ zu sein. Einmal mehr gibt Jesus den Fragestellern zu verstehen, dass er ihnen nicht auf den Leim geht: Darf ein Ehemann seine Frau per Scheidungsbrief entlassen? Jesus verneint dies, obwohl die Tora solches vorsieht.
Jesus entlarvt das Ansinnen als (männliche) Machtausübung: Nein, der Mann begeht Ehebruch, verletzt also eines der Zehn Gebote, so die Antwort. Und er begründet dies mit der von Gott gestifteten Gemeinschaft von Mann und Frau, die schon in den Schöpfungserzählungen im Buch Genesis bezeugt ist. Jesus nimmt also Partei für die zurückgelassene Frau, die nicht der Hartherzigkeit der Männer überlassen werden soll. Später präzisiert er, dass er das vice versa analog versteht: Auch wenn eine Frau ihren Mann aus der Ehe entlässt (was in
der Tora nicht vorgesehen ist), begeht sie Ehebruch.
Mich berühren hier das Eintreten Jesu für die von Machtausübung betroffene Person und der Hinweis darauf, dass Gott größer als menschliche Vorschriften ist. Dennoch bleibt diese Stelle ein Stachel im Fleisch: Was aber, wenn die hier ausgesprochene strikte Ablehnung der Ehescheidung mit der Lebenswirklichkeit von heute nicht
in Einklang zu bringen ist?
Die katholische Kirche hat lange Zeit Evangelienstellen wie diese zur Grundlage rigoroser Ehemoral gemacht. Fürs rechte Augenmaß sollte man dafür aber das Evangelium als Ganzes in den Blick nehmen,
das ja von der Größe und Barmherzigkeit Gottes Zeugnis gibt. Gott sei Dank orientiert sich die Kirche in den letzten Jahren immer mehr daran.
Otto Friedrich ist Religionsjournalist, er war bis April 2024 stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Furche“. Kontakt: sonntag@koopredaktion.at
Aus dem KirchenBlatt Nr. 36/37 vom 3. Oktober 2024. Zum Login der Digital-Ausgabe
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