Für alle Kinder, auch für manche Erwachsene, ist es spannend, jeden Tag ein Türchen des Adventkalenders zu öffnen. Wenn wir nun am kommenden Sonntag in der Kirche das erste aufmachen, dann sehen wir, etwas überraschend, das Bild Christi, wie er am Ende der Zeit auf den Wolken erscheint. Da ereignet sich der letzte Advent, sein letztes Kommen.
Vor einigen Jahren durfte ich mit einer Gruppe Ravenna besuchen, die Stadt mit den alten Basiliken und den wunderbarsten Mosaiken der Welt. Im fünften, sechsten Jahrhundert entstanden, leuchten die Bilder heute noch in herrlichen Farben. Und ganz interessant: Nirgends wird der Gekreuzigte dargestellt. Man sieht entweder Christus, der als Pantokrator, als Herr der Welt, auf einem Thron sitzt oder das vergoldete, mit Edelsteinen besetzte Gemmenkreuz, Symbol für die Herrlichkeit des Himmels, auf die wir als Getaufte zugehen. Jahrhundertelang stand nicht der leidende Jesus im Mittelpunkt, wie dann später im Mittelalter, sondern der auferstandene und verklärte Christus.
Die Zukunft beginnt heute
Seien wir ehrlich: Wir Menschen des 21. Jahrhunderts denken weniger an die Zukunft, ans Ende der Welt oder ans eigene Sterben. Vielleicht manchmal ein klein wenig, irgendwann wird es kommen, aber das ist noch weit weg. Wir sind viel mehr mit dem Hier und Jetzt beschäftigt. Aber heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens. Heute beginnt die Zukunft.
In einem modernen Lied heißt es: „Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde, heute wird getan oder auch vertan, worauf es ankommt, wenn er kommt. Der Herr wird nicht fragen: Was hast du gespart, was hast du alles besessen? Seine Frage wird lauten: Was hast du geschenkt, wem hast du genützt um meinetwillen? Der Herr wird nicht fragen: Was hast du alles gewusst, was hast du Gescheites gelernt? Seine Frage wird lauten: Was hast du bedacht, wem hast du genützt um meinetwillen? Der Herr wird nicht fragen: Was hast du gesagt, was hast du alles versprochen? Seine Frage wird lauten: Was hast du getan, wen hast du geliebt um meinetwillen? Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde…“
Am ersten Adventsonntag öffnen wir ein Türchen, nein, hoffentlich ein großes Tor für Jesus, den Gott-mit-uns, den Herrn der Welt. Wir sehen in ihm eine Zukunftsperspektive und lernen von ihm, dass letztlich allein die Liebe zählt und bleibt.
Jesus in unser Leben lassen
Aller – für mich viel zu laute – Rummel der Weihnachtsmärkte kann diese Botschaft nicht übertönen, alle Lichterteppiche und Girlanden können die Lichtgestalt Jesu nicht überstrahlen. Der Aufruf des Evangeliums „Seid also wachsam!“ lädt uns ein, viele, viele weitere Türen zu öffnen, um den stets neu kommenden Jesus hereinzulassen in unser Leben und ihn zu bitten, wie wir im Lied „O Heiland reiß die Himmel auf!“ singen. In den dunklen Wolken von Sorgen und Problemen möge sich ein Lichtfenster auftun, damit wir wieder wissen: Hinter den Wolken und durch die Nebel hindurch scheint die Sonne deiner Liebe.
Ja, taue herab, lass in den Tränentropfen unserer Herzen ein Trostlicht aufleuchten, damit wir dir mehr trauen als Versprechungen irgendwelcher scheinbarer Heilsbringer. Die Schreckensmeldungen unserer Zeit sollen uns nicht verwirren. Du kannst und wirst alles zum Guten fügen.
Du kannst auch von unten kommen: „O Erd‘ schlag aus…“ Ein Lebenstrieb, ein Hoffnungsschoss soll wachsen aus der verkrusteten Erde unserer Müdigkeit, unserer Mutlosigkeit und der verkorksten Beziehungen.
Egal wie, wir können und wollen uns offenhalten für dich. Du kamst im Stall zur Welt, du kommst auch heute, wo immer die Liebe fließt, wirst wiederkommen und alle unsere Anfänge, auch unseren Murks, vollenden.
Ich verbrachte das Obergymnasium in einem Internat. Im Schlafsaal hatte neben mir ein Bursche aus dem Zillertal sein Bett. Manchmal stand er nachts auf und geisterte als Schlafwandler durch den Raum, tat dieses und jenes und legte sich dann wieder hin. Am nächsten Morgen wusste er von alldem nichts mehr. Er war zwar auf, aber nicht wach. Geht es uns nicht ähnlich, wenn wir im Alltag vieles automatisch verrichten: frühstücken, Zeitung lesen, Auto fahren, Arbeiten erledigen, bügeln, fernsehen … Vieles geschieht wie von selbst. Wäre es nicht gut, gerade im Advent sich regelmäßig eine Zeit zu nehmen, um still zu sein, nachzudenken, zu beten, zu lesen oder „Hauskirche“ zu halten?